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Pressemitteilung vom 8.12.2018

Geld statt Gemeinwohl

Die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Tübingen möchte das ehemalige Hotel Hospiz an den Höchstbietenden verkaufen

TÜBINGEN. Die Initiative Faules Eck kritisiert die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Tübingen für ihre Entscheidung, das ehemalige Hotel Hospiz an eine der Öffentlichkeit bislang unbekannte Familienstiftung zu verkaufen.

Das großzügige Gebäude des ehemaligen Hotel Hospiz kann 40 bis 50 Menschen günstigen und gemeinschaftlichen Wohnraum bieten, eine Gastronomie in sozialer Trägerschaft beherbergen, den Tübinger*innen als Ort der Begegnung dienen – und das mitten in der Innenstadt. Mit dieser Vision gab die Initiative Faules Eck ihre Kaufabsichtserklärung für die Immobilie ab. Die Gruppe besteht aus rund 25 Tübinger*innen unterschiedlichen Alters und verschiedener Hintergründe. Details zum Konzept der Gruppe sind nachzulesen unter www.faules-eck.de. Unterstützt wird die Initiative auch vom Studierendenrat der Universität Tübingen, welcher derzeit die Möglichkeiten einer finanziellen Beteiligung an Wohnprojekten rechtlich prüfen lässt. Des Weiteren sammelten Bewohner*innen des Evangelischen Stifts, welches direkt gegenüber dem ehemaligen Hotel Hospiz liegt, 49 Unterschriften um ihre Unterstützung für die Initiative Faules Eck zu zeigen. Die Stipendiat*innen sehen die gesellschaftliche Verantwortung der Kirche und wünschen sich ein soziales Projekt als Nachbar.

Kollektives Eigentum schaffen oder Familienvermögen sichern?
Realisieren wollte die Initiative Faules Eck dieses ambitionierte Projekt als Teil des Mietshäuser Syndikats und wurde diesbezüglich umfassend von Expert*innen beraten. Das Mietshäuser Syndikat setzt sich um Ziel, gemeinschaftlich Immobilien zu erwerben und diese mittels rechtlicher Absicherungen dauerhaft dem Immobilienmarkt zu entziehen. Durch die Strukturen des Mietshäuser Syndikats werden langfristig günstige Mieten und die Selbstverwaltung der Bewohner*innen garantiert. Außerdem wird die Möglichkeit der Spekulation mit Wohnraum ausgeschlossen. Niemand erzielt durch die Vermietung Profite, da die Häuser Kollektiveigentum der jeweils aktuellen Bewohner*innen sind.

Dem gegenüber steht das Modell der Familienstiftung, für das sich der Gesamtkirchengemeinderat Tübingen nun entschieden hat. Eine Familienstiftung ist an sich nicht gemeinnützig. Ihr Stiftungszweck besteht in erster Linie in der Erhaltung und Sicherung von privatem Vermögen, auch über die jetzige Generation hinaus. Dies geht mit verschiedenen steuerlichen Vorteilen einher, insbesondere für Immobilienbesitzer*innen. Anne Rockendorf, Mitglied der Initiative Faules Eck: „Eine Familienstiftung, das klingt natürlich erstmal sozial. Tatsächlich haben wir es hier aber mit einem wirtschaftlichen Instrument zu tun, das den Reichtum weniger Menschen schützt und keinerlei soziale Zielsetzung beinhaltet.“

Während die Initiative Faules Eck für mindestens 50 Prozent der Wohnfläche eine Mietpreisbindung von 33 Prozent unter der ortsüblichen Vergleichsmiete garantierte, definierte die Familienstiftung nicht näher, was sie sich unter „günstigem“ Wohnraum vorstellt. Nach Angaben des von der Kirchengemeinde beauftragten Maklers, rechneten andere Interessenten mit Quadratmetermietpreisen von 16 Euro aufwärts. Die Initiative Faules Eck läge mit fünf Euro für Gewerbeflächen und durchschnittlich elf Euro für Wohnraum deutlich unter diesem Mietpreis, ein Zimmer würde monatlich durchschnittlich 245 Euro kosten. Mit der Initiative Faules Eck hätte der Gastronomiebereich im unteren Teil des Gebäudes wieder zu einem Ort der Begegnung für Tübinger*innen werden sollen. Der bewusst gering kalkulierte Quadratmeterpreis von fünf Euro, hätte es sozialen Träger*innen ermöglicht, ein Café in bester Innenstadtlage zu betreiben. Auch im oberen Wohnbereich hätte ein Verein, eine soziale Trägerin oder eine Initiative die Möglichkeit gehabt, Büroräume zu nutzen und somit eine zentral gelegene Anlaufstelle zu schaffen.

Zweifel am sozialen Konzept der Familienstiftung
Nach Angaben der Evangelischen Gesamtkirchengemeinde Tübingen möchte die Familienstiftung, energieeffizient und „nachhaltig“ sanieren. Während sich auch das Mietshäuser Syndikat einer möglichst ökologischen Bau- und Sanierungsweise verpflichtet fühlt, bleibt doch die Frage, wie tatsächlich sozialverträgliche Mieten trotz hoher Sanierungskosten ermöglicht werden: Schätzungen zweier unabhängiger Tübinger Architekt*innen ergaben, dass selbst die Sanierungskosten für eine Minimalsanierung zwischen 2 und 2,8 Millionen Euro liegen. Bauliche Maßnahmen für eine deutliche Hebung der Energiestandards in einem denkmalgeschützten Altbau sind hierbei noch nicht einkalkuliert. Dazu kommt, dass die Familienstiftung für die Immobilie einen Kaufpreis zwischen 2 und 2,3 Millionen Euro zahlt (höher als das Gebot der Initiative Faules Eck von 1,9 Million und niedriger als der geforderte Kaufpreis der Kirche von 2,4 Millionen). Wie die Familienstiftung mit signifikant höheren Sanierungskosten sowie einem höheren Kaufpreis und einer gewissen Rendite „günstigen“ Wohnraum schaffen möchte, ist den Mitgliedern der Initiative Faules Eck rätselhaft.

Bei den Mitgliedern der Initiative Faules Eck schafft die mangelnde Transparenz Misstrauen und Zweifel an der wohnungspolitischen Weitsichtigkeit des Entscheidungsgremiums, dem Gesamtkirchengemeinderat Tübingen. Dies wird noch verstärkt durch die bislang gewahrte Anonymität der Stiftung und die Unmöglichkeit, Fragen direkt zu klären. „Wir kritisieren die Intransparenz: Vielleicht hat der Käufer oder die Käuferin ein tolles Konzept, doch wenn dem so sein sollte, fragen wir uns, warum er/sie dazu nicht in der Öffentlichkeit stehen möchte“, sagt Leon Brenner von der Initiative Faules Eck. Die Öffentlichkeit habe ein berechtigtes Interesse an Informationen, wenn eine Immobilie von solcher Größe und Bedeutung verkauft wird. So auch Fiona Eckardt, Mitbegründerin der Initiative: „Die Kirche hatte mit uns als Partnerin die einmalige Chance, im Herzen von Tübingen sozialen Wohnraum für sehr viele Menschen zu schaffen. Dass sie stattdessen einem weitaus undetaillierteren Konzept ohne soziale Garantien den Vorrang gibt, finden wir mehr als bedauerlich.“ Dass auch die Kirche selbst Schwierigkeiten hat, ihre Entscheidung zu rechtfertigen, zeigt sich an dem mehrfach geäußerten Vorwurf, die von der Initiative veranschlagte Miete sei im Vergleich zu den von der Kirche vermieteten Räumen nicht gerade sozialverträglich. „Diese Äußerung hat bei uns im Team für viel Tumult gesorgt. Der hohe Kaufpreis und der über Jahrzehnte anhaltende Investitionsstopp der Kirche treiben unsere Mietpreise in die Höhe – trotzdem liegen wir bei Weitem unter den Mieten, von denen wir ausgehen, dass sie bald Realität werden“, meint Rebecca Seifert von der Initiative.

Soziale Kriterien zweitrangig
Letztendlich waren für die Vergabe des Zuschlags soziale Kriterien nicht von höchster Bedeutung. Einen Hauptpunkt, den der Gesamtkirchengemeinderat in seiner Begründung für die Ablehnung anführte, war, dass die Initiative Faules Eck erst im März in der Lage gewesen wäre, einen Kaufvertrag zu unterschreiben. Das Gebäude müsse noch drei weitere Monate von der Gesamtkirchengemeinde beaufsichtigt und finanziert werden. „Bei einem Kaufpreis von fast zwei Millionen Euro ist es für mich schwer nachzuvollziehen, ein soziales Projekt mit einer solchen Begründung abzulehnen”, sagt Larisa Candemir. Wie die Initiative bereits vor der Kaufentscheidung dargelegt hatte, brauchen Wohninitiativen Zeit und eine Kaufoption, um gewisse kostenintensive Schritte wie die Gründung einer GmbH und das in Auftrag geben weiterer Gutachten einzuleiten.

Neben Kaufpreis und Zeitfaktor habe auch Vertrauen in den*die Käufer*in eine Rolle gespielt. Das Entscheidungsgremium vertraue der Familie, die bereits Immobilien besitzt und in Kreisen der Gesamtkirchengemeinde bekannt ist. Der Initiative Faules Eck wurde keine Gelegenheit gegeben derartiges Vertrauen aufzubauen, da eine persönliche Vorstellung wegen Wettbewerbsverzerrung ausgeschlossen wurde. Sollte die Familienstiftung wider Erwarten sozialverträgliche Mieten in der Innenstadt anbieten, so begrüßt die Initiative dieses Projekt ausdrücklich!

Für ein Treffen mit der Presse stehen Mitglieder der Initiative Faules Eck gerne zur Verfügung. Auch in Zukunft wird die Initiative das Gebäude auf einer politischen Ebene kritisch begleiten, sofern ihre Bedenken nicht von der Kirche oder der Familienstiftung ausgeräumt werden.

E-Mail: presse@faules-eck.de